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Auf dem Markt der Verzweifelten

Martin Rücker

Dubiose Angebote für Long-Covid-Betroffene

Ein Heilmittel für die Corona-Langzeitfolgen fehlt bislang, doch die Not vieler Betroffener ist groß. Das hat einen zunehmend wilden Markt geschaffen, auf dem Ärzte und Unternehmen mit teilweise teuren und nicht immer seriösen Angeboten um Patienten werben. 

26. Februar 2024

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Als auch die zweite Hand durch die runde Öffnung gesteckt ist und beide Handflächen die konvex gewölbte Metallplatte berühren, legt der Apparat los. Die kleinen Kältekammern erzeugen einen Unterdruck, kühlen langsam auf vier Gard Celsius herunter. Es kribbelt. Ausgehend von den Händen, strömt langsam kaltes Blut in den Körper. Das Verfahren soll bei Sportlern die Regeneration unterstützen – und nun auch gegen Corona-Langzeitfolgen helfen.


„Palm Cooling gegen Post Covid“, steht selbstbewusst auf einem handgeschriebenen Schild vor dem Stand, mit dem sich die Firma Alpha-Cooling Ende November beim Long-Covid-Kongress des Universitätsklinikums Jena präsentiert. „Hände rein und einfach zwei Minuten warten“, beschreibt sie die denkbar simple Methode. In einer Studie hätten die meisten der 110 teilnehmenden Post-Covid-Erkrankten über Verbesserungen berichtet. Eine Kontrollgruppe gab es nicht, längerfristige Effekte wurden gar nicht erst untersucht.


Auf die Frage nach Evidenz zuckt der Firmenvertreter am Stand nur kurz mit dem Mundwinkel. „Bisher“, sagt er, hätten die Kältekammern „den Status einer Wellness-Anwendung“. Doch geht es nach dem Unternehmen, sollen die Apparate zur Handflächenkühlung bald in Arztpraxen und bei Heilpraktikern stehen – als eines der vielen Therapieangebote für Selbstzahler.


Jüngsten Daten zufolge leiden weniger als fünf Prozent der Corona-Infizierten unter anhaltenden Beschwerden, etwa jeder fünfte von ihnen kämpft auch nach einem Jahr noch mit erheblichen Einschränkungen. Long-Covid ereilt damit deutlich weniger Menschen als lange befürchtet – angesichts der hohen Infektionszahlen aber noch immer mehrere hunderttausend in Deutschland. Die Symptome reichen von anhaltenden Atembeschwerden über bleierne Erschöpfung (Fatigue) bis hin zu Nervenschmerzen und neurokognitiven Defiziten wie Konzentrations- und Wortfindungsstörungen.


Eine Leitlinie gibt Ärzten einige lindernde, symptomatische Behandlungsansätze an die Hand. Eine heilende Therapie jedoch fehlt. Groß ist daher die Not vor allem der Schwerstbetroffenen, unter ihnen bettlägerige Menschen. Während auch Unikliniken mangels Alternativen auf Off-Label-Verfahren setzen, gedeiht jenseits rationaler Heilsversuche ein Markt, der für Long-Covid-Erkrankte die wildesten Angebote bereithält. Seriös und unseriös sind mitunter schwer zu trennen.


Vom Pflegefall zum „Hero“


Einigen Zulauf verzeichnete die Initiative Health4Future, die nicht weniger als Ursachenforschung, Therapie „und schlussendlich Heilung“ von Long Covid zum Ziel erkoren hat. Dazu setzt das Pullacher Start-Up auf einen umfangreichen Symptomfragebogen. Gut 13.000 Menschen sollen ihn online ausgefüllt haben, mutmaßlich in Erwartung der versprochenen „Handlungsempfehlungen“. Den Berichten vieler Betroffener zufolge passierte dann allerdings lange: nichts. Das Wort von einer „Datenkrake“ machte die Runde, zumal der Fragebogen auch die freiwillige Eingabe von Krankenkasse und Versicherungsnummer vorsieht – „in der Hoffnung, dass die von uns angebotenen Dienste bald von Krankenkassen erstattet werden“, wie es seit kurzem auf der Internetseite heißt.


Inzwischen haben viele Teilnehmer ihre „Handlungsempfehlung“ in Form eines digitalen „Health Compass“ erhalten. Für das anfänglich kostenlose Angebot verlangt die Firma nun rund 30 Euro, dafür sagt es die Auswertung binnen 48 Stunden zu. Sein „Health Compass“ besteht im Kern aus einer „Diagnoseempfehlung“ für den behandelnden Arzt – auf Basis der Selbstangaben heißt es darin zum Beispiel: „Gesichert Long Covid“. Es folgen Links auf Bestellseiten für Bücher des Start-Ups sowie allgemeine Empfehlungen, etwa für Yoga-Übungen. Individuelle Therapiepläne gibt es nicht.


Wie sinnvoll ist es, für eine „Diagnoseempfehlung“ zu zahlen, wenn die Diagnosestellung beim Hausarzt eine Kassenleistung ist? Wie verlässlich ist die Rückmeldung „gesichert Long Covid“ allein auf Basis von Selbstauskünften? „Ich habe da Magenschmerzen“, sagt Rembert Koczulla. Der Chefarzt des Fachzentrums für Pneumologie der Schön Klinik Berchtesgadener Land ist der koordinierende Autor der Leitlinie für das Long/Post-Covid-Syndrom. Dabei, erläutert er, handele es sich um eine Ausschlussdiagnose: Bevor ein Arzt sie stellt, klärt er ab, ob andere Erkrankungen vorliegen. Das sei mit einem solchen Fragebogen „nicht zuverlässig möglich“, sagt Koczulla, das „umfängliche ärztliche Gespräch“ und bei Bedarf weitere Untersuchungen seien nicht zu ersetzen. Eine Yoga-Empfehlung könne zudem für besonders schwer betroffene Patienten sogar „gefährlich werden“. Er würde sie „nicht ohne klinischen Kontakt“ aussprechen.


Health4Future, gibt an, die gesammelten Daten auch zur Forschung nutzen zu wollen. Betroffene, die online ihre Angaben schickten, nennt es „Heroes“, Helden also, die mit ihrer „Datenspende“ auch anderen helfen – schließlich versteht sich das Start-Up einer Gesellschafterin zufolge als „die einzige Initiative“, die eine Lösung für das Problem Long-Covid erarbeiten könnte. Dass ein Forschungsprojekt mit den Daten liefe, ist indes nicht bekannt. Offen bleibt zudem, welchen Nutzen klinisch nicht bestätigte Selbstauskünfte für die Therapie- oder Ursachenforschung überhaupt haben könnten.


Will das Unternehmen in Zukunft Geld mit Therapieangeboten in Kooperation mit Krankenkassen verdienen, wie die Süddeutsche Zeitung unlängst schrieb? Geschäftsführerin Pholomena Poetis geht auf konkrete Fragen nicht ein. Anders ihr „Boss Healther“ Andreas Durstewitz, Chefarzt und Mitgesellschafter – doch auch er bleibt vage. „Je mehr Daten vorliegen“, erklärt er, „umso größer sind die Chancen, den Betroffenen wirksam zu helfen“.


Der niedergelassene Allgemeinmediziner, der als Vorstand des Ärztlichen Kreis- und Bezirksverbandes München eine Kammerfunktion innehat, sieht in den Diagnoseempfehlungen „lediglich eine Handreichung“, zumal den Hausärzten „oft nur wenig Zeit für ein ausführliches Patientengespräch“ bleibe. Doch das Modell irritiert. Die Landesärztekammer stellte eine berufsrechtliche Prüfung in Aussicht: „Es besteht der Verdacht auf eventuelle Verstöße gegen die Berufsordnung für die Ärzte Bayerns“, teilt eine Sprecherin mit.


Nahrungsergänzungsmittel: Angst beflügelt das Geschäft


Klarer ist das Geschäftsmodell bei Nahrungsergänzungsmitteln, die auch bei Long Covid wahre Wunder bewirken sollen. Belege dafür fehlen – was Apotheken und Reformhäuser nicht davon abhalte, Betroffenen Vitamintropfen und Mineralstoffpräparate anzudienen, kritisierte nach eigener Untersuchung die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Ihr Fazit: die Produkte seien „nicht für Heilung, Linderung oder Therapie geeignet“.


Verfangen dürften solche Warnungen begrenzt. Der Absatzförderung dienen der Branche inzwischen auch spezielle Online-Kongresse für Betroffene. Ein zusätzlicher Beschleuniger: Impf-Skepsis. Zwar sind schwere Impfschäden selten, doch es reicht, dass Corona-Vakzine mitunter wohl auch Long-Covid-ähnliche Nebenwirkungen auslösen können. Die bloße Angst beflügelt das Geschäft.


Beworben von der zur Galionsfigur von Verschwörungstheoretikern mutierten Ex-Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, initiierte die Pferdetierärztin Alina Lessenich im vergangenen Sommer einen digitalen „Impfausleitungskongress“ – bis heute verkauft sie einen Zugang zu den aufgezeichneten Vorträgen. Zu den Vortragenden gehören der US-Kardiologe Peter McCullough, der mit Falschinformationen über die Corona-Impfstoffe vor dem Europaparlament von sich reden machte, und der Autor Andreas Kalcker. Der bringt die Impfung laut Kongress-Website mit „Turbo-Krebs“ in Verbindung und spricht über eine Behandlung mit Chlordioxid – ein Mittel, bei dem Verbraucherschützer und Behörden seit Jahren eindringlich vor schweren Gesundheitsschäden warnen.


Initiatorin Lessenich selbst vermarktet mit der Berliner Firma Sunday Natural Nährstoff-Präparate mit Namen wie „Long C Energy“ und „Anti-Fatigue-Komplex“. Im Januar referierte sie auch beim „Long Covid und Post Vac Kongress“, den die Berliner Nahrungsergänzungsmittelfirma Salutem Solution mit ihrer „Akademie“ gleich selbst organisierte. Die Vorträge drehten sich um Trendthemen wie Intervallfasten, den sich hartnäckig haltenden Mythos der „Entgiftung“ durch verschiedene Substanzen – und immer wieder um angeblich passende Nahrungsergänzungsmittel.


Einmal gratis zum Kongress angemeldet, können sich Teilnehmer vor Links zum Salutem-Shop und Rabattcodes kaum retten. In einem Newsletter preist das Unternehmen einen „Entgiftungskomplex“ als Mittel gegen die „potenziell schädlichen Auswirkungen von Spike-Proteinen“ an – die Eiweiß-Strukturen sorgen angeblich „besonders häufig nach der Impfung für Probleme“. Emanuel Wyler, Grundlagenforscher am Max-Delbrück-Center für Molekulare Medizin in Berlin, hat sich die Aussagen angesehen und verortet sie „mehr oder weniger vollständig außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre“. Für den Molekularbiologen ist die beworbene Anti-Spike-Wirkung des vornehmlich aus Pflanzenextrakten bestehenden Präparats „ohne Beleg und ohne denkbaren Mechanismus“.


Schüßler-Salze und Sauerstoff gegen Long-Covid


Das gilt nicht nur für verlockende Online-Angebote. Eine Düsseldorfer Heilpraktikerschule schult Berufskollegen darin, Kräuter und Homöopathie zur „Impfausleitung“ und gegen Long-Covid ins Feld zu schicken. Andere Heilpraktiker üben sich längst darin, die Langzeitfolgen mit Vitamin-C-Infusionen und Schüßler-Salzen zu bekämpfen – nichts davon ist wissenschaftlich belegt. Richtig teuer werden kann es in Arztpraxen. Hausärzte wie Spezialisten trommeln zunehmend offensiv bei Long-Covid- und „PostVac“-Patienten für Selbstzahlerangebote – die schnell im vierstelligen Bereich oder gar darüber landen. Mal ist es ein simuliertes Höhentraining, für das sich die Praxis eigens ein Gerät angeschafft hat, mal sind es Blutwäsche-Verfahren.


Auffällig ist, wie sehr manche Praxis auf einzelne Therapieansätze fixiert scheint. Dabei umfasst Long-Covid ein breites, heterogenes Symptomspektrum – was im Einzelfall helfen könnte, lässt sich erst nach eingehender Diagnostik sagen. In der Werbung mancher Praxis aber erscheint ihr Lieblingsverfahren, das – wenn überhaupt – in klinischen Studien gerade erst erprobt wird, wie das sichere Mittel der Wahl, und Genesung als kein großes Problem. Weit aus dem Fenster lehnt sich etwa das auf Long-Covid spezialisierte Praxisnetzwerk Covivid, das in Berlin, Hamburg und an weiteren Standorten eine spezielle Sauerstoff- und Mikronährstofftherapie empfiehlt: „Sie können wieder mit Ihren Kindern spielen, Ihre Hobbys und Ihren Beruf mit Freude ausüben und unbeschwert einen längeren Spaziergang machen. Wie fühlt sich das an?“


Kammern blicken zunehmend kritisch auf das Marketing der Praxen. „Es scheint, dass die Behandlung von Long-Covid zu einem Geschäftsmodell avanciert und einige Anbieter an der Grenze des ethisch Vertretbaren oder darüber hinaus agieren“, sagt Ole Eggert, Sprecher der Ärztekammer Berlin. Jenseits der roten Linie liegen falsche Heilsversprechen und fehlende Hinweise auf mangelnde Evidenz. Eine Arztpraxis habe die Kammer „zu Änderungen auf der Homepage veranlasst“. Ernsthaft überwachen können die Kammern den Markt indes nicht. Sie prüfen erst, wenn eine Beschwerde eingeht.


Dabei ist nicht jeder Ansatz Humbug. Nur ist der Grad schmal, wie sich beim Jenaer Long-Covid-Kongress ebenfalls zeigte. Direkt gegenüber der Kältekammern konnten Besucher dort eine weitere Therapie ausprobieren. Sie mussten sich dazu nur in eine Art, nunja, Leichensack legen.


So ähnlich jedenfalls mutet der unter Metallbügeln festgekettete weiße Kunststoffsack an. Wer sich hineinbegibt und den luftdichten Reißverschluss über sich zuzieht, atmet unter Überdruck fast reinen Sauerstoff ein. Aus der Luft gegriffen ist das nicht: International wird die hyperbare Sauerstofftherapie bei neurokognitiven Long-Covid-Symptomen erforscht, an der Charité ist man durchaus optimistisch.


Die Frage ist nur, ob sie zum Do-it-yourself-Verfahren taugt.


Genau diese Idee präsentiert das Startup Rewire Medtech. Weil zum Beispiel Schwerkranke den Weg in eine Praxis selbst gar nicht bewältigen können, liefert es ihnen die sackförmigen Sauerstoffkammern nach Hause, wie Geschäftsführerin Franziska Frank am Stand erläutert. Kostenpunkt: 1.000 Euro pro Monat zur Miete oder einmalig 12.000 Euro für den Kauf. Der Chirurg Joachim Windolf, der die Hyperbare Sauerstofftherapie seit langem am Universitätsklinikum Düsseldorf einsetzt, sieht die Selbstbehandlung mit solchen Druckkammern „kritisch“. Sie könne „seltene, jedoch mitunter schwerwiegende Nebenwirkungen und Komplikationen haben“, von Krampfanfällen über eine Druck-Verletzung des Mittel- oder Innenohres bis zu einem Zusammenfallen der Lunge. Eine ärztliche Aufsicht sei daher erforderlich.



So groß der Markt der Verzweifelten sein mag: Für derartige Bedenken gegenüber Therapieangeboten scheint der Platz noch begrenzt.


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Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bild: Pixabay/Gerd Altmann

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