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Dann eben Trüffelomelette zum Frühstück

Martin Rücker

Ernährungsarmut trotz Bürgergeld – mit jedem Mehrwertsteuersatz

Nicht erst seit der Rekordinflation grassiert Ernährungsarmut im reichen Deutschland. Als erster Bundesminister lässt Cem Özdemir diese unangenehme Wahrheit zu – steht jedoch allein auf weiter Flur. Wie dramatisch die Folgen armutsbedingter Mangelernährung für Kinder bereits sind, ist derweil noch lange nicht verstanden. 

2. März 2023

Cem Özdemir traute sich was, nur ging das – drei Tage vor dem Weihnachtsfest – ein wenig unter. „Auch in einem reichen Land wie Deutschland gibt es Ernährungsarmut“, schrieb der Bundesernährungsminister da in einem Gastbeitrag für die Welt. Der Grüne war das erste Regierungsmitglied, das das Ungeheuerliche derart deutlich ausformulierte: Dass Einkommensschwächere an Obst und Gemüse sparen müssen, um genügend Lebensmittel kaufen zu können, die einfach nur „schneller satt machen“.


Nicht nur Özdemirs Vorgängerin Julia Klöckner (CDU) hatte diese Realität noch konsequent ausgeblendet. „Hunger oder existenziellen Mangel“ gibt es „in unserem Land“ nicht, beschwor sie in ihrer Antrittsrede 2018 – es ist nicht überliefert, dass sie diese Sicht noch korrigierte. Auch nicht, als ihr 2020 der Wissenschaftliche Beirat des eigenen Ministeriums in einem Gutachten seitenlang nachwies, dass auch in diesem, unseren Land „armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“ grassieren.


Falls Erkenntnis und Einsicht die ersten Schritte zur Veränderung sind, ließe sich einerseits also sagen: Es tut sich was. Andererseits ist Özdemir bisher ein einsamer Rufer in der Wüste. Als seine Leute im vergangenen Herbst eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zum Thema Ernährungsarmut auf den Tisch bekamen, mussten sie die Antwort der Bundesregierung mit fünf (!) anderen Ministerien abstimmen. Am Ende war dann wieder alles wie gehabt, also gut: Wer vom Regelsatz lebt, könnte sich grundsätzlich trotzdem gesund ernähren, erklärte man den Linken.


Niedriger Status, schlechtere Nährstoffzufuhr


Was sagen die Fakten? Natürlich nicht, dass Deutschland ein allgemeines Vitaminmangelland ist. Punktuelle Unterversorgungen aber legten selbst staatliche Verzehrstudien immer wieder offen. Es lohnt der nähere Blick: Gerade Kinder und Jugendliche bekommen von einigen Vitaminen und Mineralstoffen deutlich weniger ab als empfohlen – darunter jene, die für eine gesunde Entwicklung besonders wichtig sind. Gesichert ist zudem: Menschen mit kleinem Einkommen essen weniger Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und Pilze als besser Situierte. Überaus starke Indizien also dafür, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit einer schlechteren Nährstoffzufuhr assoziiert ist.


Stellt sich die Frage nach dem Grund. Liegt es nur am Wissen und Wollen – oder auch am Geld? Abermals liefert die Forschung Hinweise, an denen kein noch so gut gemeintes „Hartz-IV-Kochbuch“ vorbeikommt: Zahlreiche Arbeiten belegen, dass mikronährstoffreiche Lebensmittel deutlich teurer sind als energiedichte Produkte wie Nudeln und Kartoffeln. Die machen zwar schnell satt, bringen aber kaum Vitamine und Mineralstoffe mit sich. In deutlicher Mehrheit kommen Studien zu dem Schluss: Das im Regelsatz für Nahrungsmittel vorgesehene Budget reicht für einen gesunden Einkauf nicht aus.


Die beiden jüngsten Berechnungen legten Mediziner:innen und Ernährungswissenschaftler:innen der Berliner Charité sowie der Unis Bonn und Potsdam auf Basis von Preisen des Jahres 2021 vor, also noch unter dem Hartz-IV-Regime. Je nach Altersgruppe ermittelten sie einen Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent gegenüber dem für Kinder und Jugendliche zugestandenen Essensgeld – und auch bei Erwachsenen war die Deckungslücke groß. Je nach Ernährungsstil hatte ein Mann mit Kosten von 6,40 Euro bis mehr als 11 Euro am Tag zu rechnen (die mediterrane Diät lag in der Mitte). Das bei Preisen von 2021. Heute, zwei Inflationsjahre später, unterstellt das Bürgergeld einem Erwachsenen, mit rund 5,70 Euro am Tag für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke auskommen zu können.


So reicht es bei vielen zwar für die nötigen Kalorien, nicht aber für ausreichend Mikronährstoffe. Diese Unterversorgung ist es, was Mangelernährung meint: einen „verborgenen Hunger“, der – anders als kalorischer Hunger – nicht zu sehen ist, der sogar Übergewichtige ereilen kann. Dass er gleichwohl dramatische Folgen hat, auch dafür gibt es starke Indizien. Gerade bei Kindern.


Kleinerer Hippocampus bei Aufwachsen in Armut


Die Nährstoffversorgung beeinflusst ihre körperliche und geistige Entwicklung, ihren Gesundheitszustand. Wie sich eine Schwangere ernährt, prägt den Stoffwechsel ihres Kindes für dessen gesamtes Leben, und einen Mangel in seinen ersten Lebensjahren kann es später nicht mehr wettmachen. Und wir sehen ja nicht nur, dass Menschen mit geringem Einkommen häufiger an ernährungsbedingten Krankheiten leiden. Wir messen auch, dass der Hippocampus bei Kindern in Armut kleiner ist, jene Schaltzentrale im Gehirn, die zentral ist für die Lernfähigkeit. Wir ermitteln, dass die viel beschriebenen Leistungsunterschiede zwischen Kindern armer und reicher Eltern nicht erst im Schulsystem entstehen, sondern lange zuvor, im Babyalter, in dem die Ernährung zwar nicht allein entscheidend, aber besonders wichtig für die Entwicklung ist.


Und wir kennen die brisanten Befunde einer Langzeitstudie aus Brandenburg, für die Wissenschaftler die Schuleingangsuntersuchungen von 250.000 Kindern der Jahre 1994 bis 2006 auswerteten und mit dem sozialen Status der Eltern abglichen: War der niedrig, lagen die Kinder nicht nur bei der Sprachentwicklung zurück. Sie waren auch signifikant kleiner gewachsen als Gleichaltrige aus besser situierten Familien. Neben der elterlichen Sorgearbeit sahen die Forscher in der Nährstoffversorgung die wesentliche Ursache.


Wir wissen bereits so viel – nur nicht, wie viele Menschen in Deutschland Ernährungsarmut betrifft. Mehr als vier Prozent, schätzte die Welternährungsorganisation 2014 ohne gesicherte Daten. Neun Prozent verzichteten aus Geldgründen beim Einkauf auf Obst und Gemüse, ergab eine Umfrage 2016, lange vor Corona und dem Krieg. Das wahre Ausmaß des Problems ist heute in keiner Statistik erfasst, doch der Mechanismus lässt sich beschreiben: Fehlt Armutsbetroffenen das Geld für eine gesunde Ernährung, können sie ihre Kinder schlechter ernähren. Mit höherer Wahrscheinlichkeit fehlt es ihnen an Vitaminen und Mineralstoffen, ein Mangel, der Entwicklung und Bildungserfolge hemmt – und das Risiko erhöht, dass diese Kinder auch als Erwachsene in Armut leben müssen und die eigenen Kinder nicht gesund ernähren können. Armut und Mangelernährung bedingen sich gegenseitig, die Armutsspirale dreht sich, während die Sozialpolitik schon heute die Armut von morgen fördert. Denn bei aller Euphorie von SPD und Grünen über das neue Bürgergeld: Als der Regelsatz zum 1. Januar um etwa 12 Prozent stieg, lag die Teuerungsrate bei Lebensmitteln bei über 20 Prozent. Ein Jahr zuvor stand einem Hartz-IV-Aufschlag von 0,76 Prozent eine Lebensmittel-Inflation von knapp 5 Prozent gegenüber.


Da bewirkt die neue Ehrlichkeit eines Cem Özdemir wenig, solange er an die entscheidenden Hebel nicht kommt. In Schweden konnte ein ausgewogenes, kostenloses Mittagessen in den Schulen die Entwicklung gerade armutsbetroffener Kindern verbessern –eine solche Maßnahme jedoch läge in der Verantwortung der Bundesländer. Die Höhe der Regelsätze wiederum ist Sache von Sozialminister Hubertus Heil, und der Sozialdemokrat offenbart einen ganz anderen Blick auf das Thema als Özdemir.


Ein Zirkelschluss der Ignoranz


Das beginnt mit der Regelsatzberechnung. Bei den Ernährungskosten orientiert sie sich an den Beträgen, die Menschen mit geringen Einkommen in der Vergangenheit tatsächlich für Essen ausgaben, ohne auch nur zu prüfen, ob dies für eine gesunde Kost reicht oder ob es nur deshalb so wenig ist, weil das Budget durch Tafel- und andere Spenden künstlich kleingerechnet wurde. Konfrontiert mit der Vorstellung der Wissenschaftlichen Berater des Ernährungsministeriums, dass das Geld auch für eine gesunde Ernährung reichen sollte, erklärte das Sozialministerium 2021 einmal, dieses Ziel gar nicht berücksichtigen zu können. Warum? Weil man den Geldbedarf für eine gesunde Ernährung nicht erhebe. Ein Zirkelschluss der Ignoranz: Wir können es nicht, weil wir es nicht machen – und deshalb können wir nicht.


Heils Beamte waren es auch, die den Kollegen im Hause Özdemir jene Aussage in den Block diktierten, die im vergangenen Herbst in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion landete: Dass der Regelsatz für eine gesunde Ernährung schon reiche – Quelle, ausgerechnet, jenes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats im Ernährungsministerium, in dem das glatte Gegenteil steht. Heil überließ es Özdemir, sich bei den Professoren zu entschuldigen. Die Falschaussage aber blieb in der offiziell vom Bundestag veröffentlichten Antwort stehen. Wie der Eindruck: Özdemir würde gerne mehr, darf aber nicht.

In der Not belässt er bisher es bei halbgaren Entlastungsvorschlägen wie dem Wegfall der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse. Eine alte Idee, deren Ziel es eigentlich ist, die Menschen hin zu mehr gesunder und pflanzlicher Nahrung zu lenken. Inmitten der Rekordinflation holte Özdemir sie im Gewande einer Entlastungsmaßnahme wieder aus der Schublade.


Ricarda Lang: Bürgergeld reicht nicht zum Leben



Armutsbetroffenen aber brächte das herzlich wenig: Sie kaufen ja kaum noch Gemüse oder holen es steuerfrei bei der Tafel. Entsprechend sarkastisch kommentierte Michael Stiefel, der Vorstand des Armutsnetzwerks, die Idee: „Wer den Tag mit getrüffeltem Wachteleieromelette an Iberico-Schinken beginnt, der profitiert davon natürlich…“


Auch das Eingeständnis einer anderen Grünen, Ricarda Lang, fand kaum Beachtung – ebenfalls zu Unrecht. In einem Interview mit dem Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kuntz sagte sie: „Unser Ziel bleibt: Regelsätze müssen zum Leben reichen“. Nur um anzufügen: „Das ist noch nicht geschafft.“


Die Parteichefin einer Regierungspartei bekennt sich also dazu, Sozialleistungen beschlossen zu haben, die zum Leben nicht reichen. Was für eine Ehrlichkeit! Und was für eine Kapitulationserklärung.



Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung der Freitag.

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