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Off-Label: Nicht für alle

Martin Rücker

Lauterbachs Liste: Glücklich schätzen darf sich, wer Corona hatte

Nach den Plänen des Bundesgesundheitsministers sollen Long-COVID-Betroffene leichter Zugang zu Medikamenten bekommen. Andere postviral Erkrankte sowie Impfgeschädigte dagegen fallen nicht darunter – dabei haben sie oft dieselben Symptome. Kritiker bewerten das als „unverantwortlich“.

1. Januar 2024

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Karl Lauterbach (SPD) will Long-COVID-Erkrankten einen besseren Zugang zu Medikamenten ermöglichen. Dazu lässt der Bundesgesundheitsminister eine Liste mit Therapien erarbeiten, die die Krankenkassen auch ohne Zulassung für Long COVID – bei einem „off label“-Einsatz also – finanzieren sollen. Nicht vorgesehen sind dabei jedoch Patient:innen, die nicht nach Corona, sondern nach anderen Virusinfektionen oder nach einer Impfung erkrankt sind – obwohl sie häufig unter denselben Symptomen leiden. So geht es aus der Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage zur geplanten Off-Label-Liste hervor.


Bisher sind keine Arzneimittel speziell für die Behandlung von Corona-Langzeitfolgen zugelassen, ein heilendes Mittel fehlt ohnehin. Es gibt jedoch Therapien, die die Beschwerden vieler Betroffener deutlich lindern können. Einige Kliniken und niedergelassene Arztpraxen haben damit gute Erfahrungen gemacht – viele andere verschreiben sie gar nicht erst. Denn die Medikamente sind zwar auf dem Markt, vorgesehen sind sie allerdings für andere Erkrankungen, bei denen sie gut erforscht sind. Weil klinische Studien für den Einsatz dieser Mittel bei der Long-COVID-Behandlung noch fehlen, zahlen die Krankenkassen dafür in der Regel nicht.


Wirksame Medikamente – die nicht eingesetzt werden


„Wir haben viele Medikamente, von denen wir wissen, dass sie bei Long COVID wirken, aber sie werden in Deutschland nicht eingesetzt. Das muss sich ändern“, hatte Lauterbach im September 2023 seine Initiative begründet. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn richtete er Anfang Dezember die „Expertengruppe Long COVID Off-Label-Use“ ein. Möglichst bald soll sie eine Liste von Medikamenten erstellen, die Ärzte dann auch ohne Long-COVID-Zulassung verschreiben können, auf Kosten der Kassen. Die Gruppe werde „unter Berücksichtigung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands und möglicher Risiken eine Bewertung zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete für den Einsatz bei Long COVID vornehmen“, erklärte eine Sprecherin Lauterbachs.

 

Nur „bei Long COVID“? Die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion mögen das derzeit am stärksten beachtete Problem sein, doch schon lange vor der Covid-19-Pandemie erkrankten Menschen postviral. Im schlimmsten Fall entwickelten sie die chronische Multisystemerkrankung ME/CFS. Sie gilt auch als schwerste Ausprägung von Long COVID, doch zahlreiche Betroffene leiden darunter bereits seit vielen Jahren – unabhängig von Corona. Auch nach einer Corona-Impfung sind Symptome wie bei Long-COVID aufgetreten, für die sich die wissenschaftlich nicht definierte Bezeichnung Post-Vac-Syndrom eingebürgert hat: nach bisherigem Wissensstand in deutlich geringerer Zahl, aber nicht minder schwer. Doch auch auf ausdrückliche Nachfrage, ob auch Menschen mit Corona-unabhängigem ME/CFS oder Post-Vac Zugang zu Off-Label-Therapien erhalten sollen, bezieht sich die Lauterbach-Sprecherin nur auf „Beschwerden im Rahmen von Long COVID“. Die Expertengruppe schaue sich auch mögliche Behandlungen für ME/CFS-Symptome an – aber offenbar nur für den Fall, dass sie nach einer Corona-Infektion auftreten. Auf Fragen zu Post-Vac geht sie nicht ein.


„Diese Menschen brauchen Anlaufstellen und Hilfen“


Ricarda Piepenhagen, Gründerin der Betroffeneninitiative NichtGenesen, reagiert „entsetzt“ auf die Erklärung des Ministeriums. Es gebe Impfgeschädigte, die nie eine Corona-Infektion hatten. „Was sollen diese armen Menschen machen? Sollen sie sich erst absichtlich mit Corona infizieren, um in den Genuss einer medizinischen Versorgung zu kommen?“, fragt Piepenhagen rhetorisch. „Diese Menschen brauchen Anlaufstellen und Hilfen.“ Das gleiche gelte für ME/CFS-Erkrankte, von denen „viele schon jahrelang kämpfen.“


„Wir dürfen hier keine Zweiklassenmedizin schaffen“, sagt Carmen Scheibenbogen, Immunologin an der Berliner Charité. Die ME/CFS-Expertin, die Lauterbachs Expertengruppe angehört, will sich dafür einsetzen, bei Off-Label-Therapien nicht nach dem Auslöser der Beschwerden zu selektieren: „Es geht nicht nur um Long COVID. Die Behandlungen müssen auch bei anderen postinfektiösen Syndromen und für die seltenen Fälle, bei denen diese durch Impfung ausgelöst wurden, zur Verfügung stehen.“ Dazu zählt Scheibenbogen ME/CFS-Erkrankte, die ihre Beschwerden unabhängig von einer Corona-Infektion entwickelt haben, ebenso wie Menschen, die aktuell Langzeitfolgen nach einer Influenza- oder RSV-Infektion entwickeln.


Union: Lauterbach agiert „unverantwortlich“


Kritik an Lauterbachs Vorgehen kommt auch aus der Opposition im Bundestag. Post-Vac-Betroffene dürften nicht vergessen werden, sagt der CDU-Politiker Sepp Müller. „Aus diesem Grund wäre es der richtige Schritt gewesen, bei den geplanten Vorhaben des Ministers sich klar an die Seite der Betroffenen zu positionieren. Somit macht Minister Lauterbach viele Betroffene zum Spielball der Zuständigkeiten. Das ist unverantwortlich“, so der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion.


Innerhalb der Bundesregierung wir eine Unterstützung von Off-Label-Therapien schon lange beraten. Bei einem Treffen mit Lauterbach hatte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bereits am 16. März dieses Jahres nach einer entsprechenden Initiative gefragt. So geht es aus internen Unterlagen des Forschungsministeriums hervor, über die ich exklusiv berichtet hatte. Erst Mitte September, ein halbes Jahr später, kündigte Lauterbach die Off-Label-Liste als Ergebnis eines Runden Tisches mit Experten und Betroffenen an. Noch bis in den Dezember dauerte es, bis die Expertengruppe eingesetzt war.


Sobald deren Liste vorliegt, muss noch der Gemeinsame Bundesausschuss – das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen – darüber beschließen. Ob die Krankenkassen die Therapiekosten dann auch tatsächlich übernehmen, ist auch bei Long-COVID-Patient:innen noch fraglich. Ob ein Arzneimittel „vollständig zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden kann, hängt insbesondere davon ab, ob eine positive Bewertung zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung dieser Arzneimittel in der nicht zugelassenen Indikation vorgelegt werden kann“, betont die Sprecherin Lauterbachs. 


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Der Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und bei RiffReporter. Bild: Pixabay.

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