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Zahnpasta bald ohne umstrittenen Farbstoff?

Martin Rücker

Titandioxid in Ibuprofen, Viagra & Co.

Für Lebensmittel hat die EU den Zusatz Titandioxid als „nicht mehr sicher“ eingestuft. Jetzt kündigen auch mehrere Zahnpasta-Hersteller einen Verzicht an. Doch nicht alle sehen Handlungsbedarf – und die Behörden tappen bei der Risikoeinschätzung im Dunkeln. 

3. Juni 2021

Ist die Zahnpasta strahlend weiß oder hat sie weiße Streifen, hängt dies in den meisten Fällen an Titandioxid, einem ebenso verbreiteten wie umstrittenen Farbstoff. Wer im Handel die kleingedruckten Inhaltsangaben der gängigen Produkte studiert, stellt fest: Titandioxidfreie Alternativen sind rar gesät. Die weitaus meisten Pasten enthalten das Weißpigment, auf dem Etikett steht es oft unter der Fachbezeichnung CI 77891.


Auch in Kaugummi, Zuckerguss oder Schokonüssen sorgt Titandioxid für reinstes Weiß und glänzende Überzüge – noch. Anfang Mai hatte die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA den mineralischen Stoff als „nicht mehr sicher“ für Lebensmittel eingestuft. Es sei nicht auszuschließen, dass Titandioxid bei oraler Aufnahme erbgutschädigend und krebsauslösend wirkt. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will den Zusatzstoff für Lebensmittel daher verbieten, auch die Schweiz plant ein Verbot bis spätestens Ende des Jahres.

 

dm, Unilever und Nenedent bald ohne Titandioxid


Wie auch bei Medikamenten zeichnet sich bei Zahnpasta ein solcher Schritt bisher nicht ab. Allerdings kündigen auf Anfrage mehrere Hersteller an, ihre Produkte umzustellen und Titandioxid zu verbannen. Wie die Drogeriekette dm bei ihrer Eigenmarke Dontodent: Man verfolge nicht nur die wissenschaftlichen Entwicklungen, sondern „auch die Bedürfnisse unserer Kunden“, erklärt dm-Geschäftsführerin Kerstin Erbe. „In diesem Zusammenhang arbeiten wir bereits seit einiger Zeit an Rezepturen ohne Titandioxid, die wir unseren Kunden hoffentlich bald zur Verfügung stellen können.“ Erbe bestätigt, dass Titandioxid keine funktionale Bedeutung für die Zahnpasta hat – es geht allen um den optischen Effekt, das strahlende Weiß: „Bisher stehen uns keine geeigneten Alternativen zur Verfügung, um die vom Kunden gewohnte weiß-transluzente Optik auch ohne Titandioxid zu erreichen. Sofern in der Rezeptur auf das Weißpigment verzichtet wird, erhält die Zahncreme in der Regel eine gräuliche Farbe.“


Der Unilever-Konzern (u.a. „Signal“) gibt auf Anfrage an, aufgrund von „verändernden Verbraucherpräferenzen“ schrittweise auf Titandioxid-freie Zahnpflegeprodukte umzustellen. „In Deutschland enthält nur noch ein einziges Produkt diesen Inhaltsstoff, an dessen Ersatz wir derzeit arbeiten“, so eine Sprecherin per E-Mail. Und auch das Berliner Unternehmen Dentinox, das die weit verbreitete Kinder-Marke Nenedent herstellt und Titandioxid derzeit schon in seiner Zahnpasta für erste Zähnchen einsetzt, stellt einen Verzicht in Aussicht. Die Entwicklung einer neuen Rezeptur sei bereits „weit fortgeschritten“, teilt Apotheker Gerd Koßmann mit, bei Dentinox für das Qualitätsmanagement zuständig. Er gehe davon aus, „noch in diesem Jahr die Nenedent Zahncremes ohne Titandioxid auf den Markt zu bringen.“ Voraussichtlich bis Herbst werde entschieden, ob das Weißpigment ersetzt oder einfach weggelassen werden, noch seien zwei Versionen in der Stabilitätsprüfung. Dabei hat man durchaus zur Kenntnis genommen, dass mit der Kinderzahnpasta von Elmex ein gängiges Konkurrenzprodukt auf dem Markt ist, das ohne Titandioxid auskommt – es erscheint vielleicht nicht strahlend, aber immer noch relativ weiß.


Andere Hersteller sehen offenbar keinen Handlungsbedarf – oder wollen sich nicht äußern. „Nach Rücksprache mit unserer globalen Corporate Communications Abteilung können wir zum Thema Titandioxid leider kein Statement veröffentlichen“, teilte eine Sprecherin des Marktführers Colgate-Palmolive (Colgate, Dentagard) fast eine Woche nach Anfrage mit. GlaxoSmithKline (Odol) ging auf konkrete Fragen nicht ein, bestellte nur, dass die EFSA-Bewertung geprüft werde. Auch die Drogeriekette Rossmann wollte auf Fragen „nicht im Detail eingehen“ – man prüfe „aktuell“ die Datenlage, was man aber zugleich bereits wusste: „Auch unter Berücksichtigung der neuen Datenlage sind all unsere Zahncremes als unbedenklich und sicher einzustufen.“


„Nach derzeitigem Kenntnisstand kein Sicherheitsrisiko“, lautet auch die Einschätzung bei Procter & Gamble – der Konzern (Oral-B, blend-a-med) möchte nun zunächst die Bewertung und mögliche Maßnahmen der europäischen Behörden abwarten. Ein Verzicht auf Titandioxid würde die Herstellung gestreifter Zahnpasta „erschweren“, argumentiert der Konzern – und die Streifen signalisierten den Menschen „eine gründliche Reinigung und Frische“, machten also „einen großen Teil des Putzerlebnisses“ aus, was daher „auch zum regelmäßigen Putzen und der damit verbundenen Zahnhygiene“ beitrage.


Nano oder nicht? Risiko hängt von Partikelgröße ab


Doch wie riskant ist Titandioxid in Zahnpasta? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten – jedenfalls nicht ohne die Daten der Hersteller. Die EFSA bezieht ihre Einstufung der Verbindung als „nicht sicher“ ausdrücklich nur auf Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff (E 171). Hier konnte die Behörde nach Auswertung der Studienlage ein Krebsrisiko bei oraler Aufnahme nicht ausschließen, als problematisch gilt dabei, wenn das Titandioxid zum Teil auch aus winzigen Partikeln in Nanogröße besteht.


Zwar wird Zahnpasta nicht wie Lebensmittel verzehrt – doch zum einen legte eine niederländische Studie 2016 nahe, dass bei Kindern das versehentliche Verschlucken von Zahnpasta wesentlich zur Titandioxidaufnahme beiträgt. Dass es dabei nur um geringe Mengen geht, ist nicht entscheidend: Beim Lebensmittelzusatzstoff ging die EFSA davon aus, dass sich verschlucktes Titandioxid im Körper anreichern kann, eine sichere Aufnahmemenge konnte sie daher nicht benennen.


Fraglich ist zudem, welche Rolle der Kontakt mit der Mundschleimhaut spielt. Eine norwegische Studie kam 2017 zu dem Schluss, dass Titandioxid in Nanopartikelgröße die Schleimhaut durchdringen kann. Die Europäische Kommission konnte dazu auf Nachfrage keine Einschätzung abgeben.


Zentral für die Risikobewertung ist also die Frage: Enthält „CI 77891“ in Zahncremes Nanopartikel oder nicht? Bei Lebensmitteln zeigten zahlreiche Untersuchungen jedoch, dass das dort eingesetzte Titandioxid regelmäßig auch Nanopartikel enthielt. „Rückschlüsse auf CI 77891 lässt das nicht direkt zu, da es unterschiedliche Herstellungsarten dieser Pulver gibt, und Pigmente jeweils sehr spezifische Größenverteilungen haben können“, sagt die Chemikerin Dr. Natalie von Götz, die an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich Untersuchungen zu Titandioxid geleitet hat. Tatsächlich geben mehrere Zahnpasta-Hersteller ausdrücklich an, bei ihren Produkten „kein Nanomaterial“ einzusetzen.


Hersteller verschleiern Angaben zu möglichen Nano-Bestandteilen


Was sie damit nicht sagen ist: Ob ihre Zahnpasta damit auch wirklich frei ist von Titandioxid-Nanopartikeln. Denn Doch ob dm, Procter & Gamble oder Unilever – sie alle berufen sie sich bei ihrer Aussage auf die Definition von „Nanomaterial“ in der EU-Kosmetikverordnung. „Kein Nanomaterial im Sinne der Definition der Verordnung“: Eine solche Formulierung ist trickreich, um nicht zu sagen: eine Nebelkerze. Denn die Verordnung definiert nur das als Nanomaterial, was gezielt in dieser Partikelgröße hergestellt wurde – und das ist bei Titandioxid in Zahnpasta ohnehin nicht der Fall. Denn Titandioxid-Nanopartikel sind farblos. Was die Zahncremes brauchen, sind größere Teilchen, weil durch Lichtbrechung an ihnen erst das strahlende Weiß entsteht. Doch dasselbe gilt für weiß-gefärbte Lebensmittel – in denen dennoch Nanopartikel nachgewiesen wurden. Ob das in der Zahnpasta genutzte Titandioxid am Ende auch Nanopartikel enthält, ungewollt, ist also noch lange nicht gesagt. Die europäischen Regularien ließen das zu, solange die Anzahl der Teilchen in Nanogröße unter 50 Prozent bleibt. „Damit können Hersteller mit Recht behaupten, dass ein Kosmetika-Inhaltsstoff kein Nanomaterial ist, er kann aber trotzdem einen kleinen Anteil von Nanopartikeln aufweisen“, erklärt Wissenschaftlerin von Götz.


Anders als bei Lebensmitteln gibt es bei Zahnpasta kaum veröffentlichte Untersuchungen zu den Partikelgrößen. Einzelne Untersuchungen von Wissenschaftlern aus Bahrain, dem Technologiekonzern Agilent oder einer dänisch-schweizerisch-deutschen Forschergruppe geben an, Titaniumdioxid-Teilchen in Nano-Größe gefunden zu haben, doch die Untersuchungen gelten entweder als methodisch umstritten oder haben nur einzelne Produkte analysiert. Jedenfalls ist die Stichprobe zu gering, um eine Verallgemeinerung zuzulassen. Um das Risiko näher einschätzen zu können, müsste also die genaue Partikelgrößenverteilung des Titandioxids in den Zahnpasten auf dem Markt bekannt sein. Doch in dieser entscheidenden Frage sind die Risikobehörden blank. Nano oder kein Nano in der Zahnpasta – weder die EFSA noch die Europäische Kommission und ihr für die Bewertung von Kosmetik-Inhaltsstoffen zuständiges Fachgremium, der Wissenschaftliche Ausschuss für Verbrauchersicherheit (SCCS), hatten eine Antwort. Auch das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) kann die Lage derzeit „nicht beurteilen“, ihm lägen schlicht keine Daten vor, in welchen Partikelgrößen Titandioxid in Zahncremes zu finden ist.


EU-Kommission kündigt Regulierung an – Details sind noch offen


Wer das wissen sollte, sind die Zahnpasta-Hersteller. Auf Anfrage machte keines der angefragten Unternehmen konkrete Angaben. „Detaillierte Angaben zur Partikelgröße und Verteilung von spezifischen kommerziellen Materialien unterliegen der Vertraulichkeit und können daher leider nicht weitergegeben werden“, ließ etwa Procter & Gamble wissen – freilich nicht ohne zu „versichern“, dass es sich bei dem genutzten Titandioxid nicht um Nanomaterial im Sinne der gesetzlichen Verordnung handele.


Die gesetzliche Grundlage für die Firmen könnte sich allerdings ändern. Ohne Details zu nennen, kündigte die Europäische Kommission auf Anfrage regulatorische Maßnahmen für die Kosmetikbranche an: „Derzeit arbeitet die Kommission an der Verabschiedung einer Verordnung, die die Verwendung von TiO2 [Titandioxid; Anm. des Autors] in kosmetischen Mitteln einschränken und weiter begrenzen soll“, so eine Sprecherin. Was das für Zahnpasta heißt? Hierzu werde die Kommission den Wissenschaftlichen Ausschuss für Verbrauchersicherheit (SCCS) mit einer Einschätzung beauftragen. Anschließend werde sie entscheiden, „ob zusätzliche Regulierungsmaßnahmen erforderlich sind“.


Dieser Text erschien zuerst bei BuzzfeedNews Deutschland.

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