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Zu wenig

Martin Rücker

Hartz IV: Zu wenig für gesundes Essen – und bald noch weniger

Zwei neue Studien belegen: Mit den Hartz-IV-Sätzen ist gute Ernährung nicht zu finanzieren. Das von Bundessozialminister Heil geplante Bürgergeld wird das Problem nicht lösen – im Gegenteil. 

4. Oktober 2022

Vor zwei Jahren warnte der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums vor „armutsbedingter Mangelernährung und teils auch Hunger“ in Deutschland. Schon vor Corona, Krieg und Rekord-Inflation sahen die Experten genügend Indizien für ihre These, dass mit Hartz IV eine gesunde Ernährung nicht zu finanzieren ist. Das Problem: Es fehlten aktuelle Daten als Beleg. Das hat sich nun geändert: Zwei neue Studien untermauern die Warnung.


Für die erste analysierten Ernährungsforscher von Uni Bonn, Berliner Charité und anderen Hochschulen, welche Lebensmittel Kinder und Jugendliche konsumierten – und ermittelten dafür die Mindestverkaufspreise im Lebensmitteleinzelhandel von 2021. Unabhängig vom Ernährungsstil stellten sie fest, dass der Regelsatz „nicht ausreicht, um die realen Kosten zu decken“. Dieser berücksichtige vor allem bei Kindern ab zehn Jahren den Energiebedarf nicht ausreichend.


Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent


Je nach Alter sieht Hartz IV für Kinder und Jugendliche ein Budget von 3,25 bis 4,29 Euro pro Tag für Essen vor. Den Wissenschaftlern zufolge liegen die Kosten jedoch zumeist höher: Je nach Altersgruppe, Geschlecht und Ernährungsweise besteht ein Mehrbedarf von bis zu 50 Prozent (so bei Jungen ab 15, die sich vegan ernähren). Dabei ließen sie weitere Kosten wie für die Zubereitung von Lebensmitteln sogar noch außen vor und gingen für alle Kinder von einer höchstmöglichen Subventionierung von Schulmittagessen aus. Die tatsächlichen Lücken zwischen Hartz-IV-Sätzen und Ernährungskosten dürften also noch größer sein, vermuten sie.


Bei einer zweiten Untersuchung ging es nicht darum, wie sich Menschen ernähren – sondern, wie sie sich idealerweise ernähren sollten. Das Fazit geriet noch deutlicher: Sowohl Hartz IV als auch Mindestlohn „reichen nicht aus, um einen gesunden Lebensstil zu gewährleisten“, fanden Mediziner und Ernährungswissenschaftler von Charité und Uni Potsdam. Sie hatten für eine vierköpfige Familie nach anerkannten Empfehlungen Warenkörbe für unterschiedliche, gesunde Ernährungsstile zusammengestellt und dafür die Kosten berechnet, auf Grundlage der jeweils günstigsten, regulären Preise in Supermärkten und Discountern von Anfang 2021. Der Geldbedarf lag bei mindestens 652 Euro für vier Wochen und reichte, je nach Ernährungsstil, bis zu 1.121 Euro. Eine mediterrane Diät lag mit 824 Euro in der Mitte. Die heutigen Hartz-IV-Sätze budgetieren für die Musterfamilie jedoch nur gut 530 Euro für vier Wochen Essen.


Beim Bürgergeld wird nicht erhöht, sondern de facto gekürzt



Was ändert sich, wenn das geplante Bürgergeld 2023 Hartz IV ablöst? Die SPD verknüpft mit der Reform immerhin ihr Wahlversprechen von „mehr Respekt“ und einer verlässlichen Absicherung für Bedürftige. Sozialminister Hubertus Heil will dazu den Regelsatz für Erwachsene von derzeit 449 auf 502 Euro im Monat erhöhen. Für Lebensmittel hätten sie dann statt gut 155 Euro etwa 174 Euro – ein Plus von zwölf Prozent. Was nach einem kräftigen Aufschlag klingt, entpuppt sich jedoch im Abgleich mit der Inflationsrate de facto sogar als Kürzung: Denn der Preis für Lebensmittel liegt mehr als 16 Prozent über dem Vorjahr. Die Warnung der Wissenschaftler vor den Folgen armutsbedingter Mangelernährung vor allem für die Gesundheit von Kindern sind also aktueller denn je.


Dieser Text erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Foto: pixabay/Lesiakower


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