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»Das Hungerkarussell dreht sich ungebremst«

Martin Rücker

»Wer arm geboren wird, bleibt arm« 

Der Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski, emeritierter Professor der Universität Hohenheim, hat Mangelernährung bei Kindern in Entwicklungsländern erforscht. Auch hierzulande warnt der 73-Jährige vor den Auswirkungen von »verborgenem Hunger«.  

15. August 2022

Frage: Im reichen Deutschland gibt es „armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“: So stellte es der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums, dessen Mitglied Sie damals waren, 2020 in einem Gutachten fest. Was hat sich seither getan?


Biesalski: Es gibt Schätzungen, dass jedes vierte Kind in Deutschland von Ernährungsarmut bedroht ist, die Eltern also zu wenig Geld für eine gesunde Ernährung haben. Genaue Daten fehlen, fest steht aber: Corona hat das Problem vergrößert, auch weil noch mehr alleinerziehende Mütter in Armut gerutscht sind. Jetzt verschärfen Preissteigerungen die Situation weiter. Nur Fertiggerichte, die viel Fett und Zucker enthalten, aber wenige Vitamine und Mineralstoffe, sind kaum teurer geworden – ausgerechnet. Sie tragen dazu bei, dass Kinder in Armut oft doppelbelastet sind: Sie haben Übergewicht und sind zugleich mit wichtigen Nährstoffen unterversorgt.


Für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke berücksichtigt der Regelsatz am Tag etwa drei Euro für kleine Kinder und gut fünf Euro für Jugendliche und Erwachsene. Viele meinen: Wer will, kann sich auch von Hartz IV gut ernähren.


Das ist falsch. Es ist belegt, dass eine gesunde Lebensmittelauswahl mindestens doppelt so teuer ist wie eine Ernährung auf Basis von Kartoffeln, Reis und Nudeln. Solche stärkehaltigen Grundnahrungsmittel sättigen, aber sie ernähren nicht. Eine ausgewogene Mischkost, die Kinder für ihre Entwicklung brauchen, können sich Familien mit Hartz IV nicht leisten. Überträgt man die Daten anderer Länder, bräuchte es für Kleinkinder wenigstens fünf Euro am Tag, für ältere Kinder acht und für Erwachsene zehn.


Deutschland gilt allerdings nicht als Vitaminmangelland.


Einen Mangel, den man sieht – in Form von Rachitis oder Skorbut –, gibt es wahrscheinlich nicht. Wohl aber eine Unterversorgung mit wichtigen Nährstoffen wie Eisen, Jod, Vitamin D, Folsäure und Zink. Das Problem ist: Dieser verborgene Hunger verursacht Entwicklungsstörungen. Kleinkindern in armen Familien fehlt es an Nährstoffen, die für die Gehirnentwicklung wichtig sind. Diese Unterversorgung ist nicht mehr aufzuholen, sie wirkt direkt auf den Bildungserfolg und auf spätere berufliche Chancen aus. Es ist ein Hungerkarussell: Wer arm geboren wird, bleibt arm.


Welche Belege gibt es dafür?


Eine Langzeituntersuchung mit 250.000 Kindern in Brandenburg hat gezeigt: Kinder aus armen Familien sind kleiner als besser gestellte Gleichaltrige. Auch Defizite in der Sprachentwicklung tauchen bei ihnen viel häufiger auf. Inzwischen wissen wir, dass die Leistungsunterschiede abhängig vom sozialen Status schon in den ersten zwei Lebensjahren exorbitant sind.


Liegt das nicht vor allem an der Förderung durch die Eltern?


Natürlich spielen neben der Ernährung auch andere Faktoren mit rein. Die Ernährung können wir allerdings am einfachsten verändern. Ein Riesenschritt wäre eine kostenlose, gesunde Verpflegung in Kitas und Schulen. In Schweden konnten dadurch die Gesundheitskosten für chronische Erkrankungen deutlich gesenkt werden. Das Geld ist also gut investiert.


Nun erhielten Hartz-IV-Empfänger Einmalzahlungen, zudem will Sozialminister Heil die Regelsätze um 30 bis 40 Euro im Monat anheben.


Das ist zynisch. Damit wird sich das Hungerkarussell ungebremst weiterdrehen. Es gibt ja das Vorurteil, dass Armutsbetroffene zusätzliches Geld vor allem für Handys, Zigaretten und Flachbildfernseher ausgeben würden – eine bösartige Unterstellung, die längst widerlegt ist. Eine Studie aus den USA hat gezeigt: Gibt man armen Familien 300 Dollar im Monat mehr, verbessert sich die körperliche und geistige Entwicklung von Kleinkindern drastisch. Mit Handys und Fernsehern hat das nichts zu tun. Es wäre doch ganz einfach: Unsere Sozialpolitik müsste für Deutschland endlich genau berechnen, was eine gesunde Ernährung kostet – dieses Geld müsste sie dauerhaft über Sozialleistungen zur Verfügung stellen.


Warum gibt es diese Rechnung nicht?


Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es will keiner wahrhaben, dass es armutsbedingte Mangelernährung gibt.


Wie haben verantwortliche Politiker auf den Befund zur Ernährungsarmut im Gutachten von 2020 reagiert?


Gar nicht. 



Das Interview erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau. Bild: Universität Hohenheim / Jana Kay

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