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»Wir könnten viele Todesfälle vermeiden«

Martin Rücker

Mediziner fordern Ernährungswende in Krankenhäusern

Ein Bündnis aus 24 medizinische Fachgesellschaften drängt auf Maßnahmen gegen Mangelernährung im Krankenhaus. Das Problem ist seit Jahren bekannt und hat gravierende Folgen für die Patienten – nun soll Gesundheitsminister Lauterbach mit seiner Klinikreform bessere Voraussetzungen für Ernährungstherapie schaffen. 

4. Mai 2023

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Seine Mangelernährung war bereits fortgeschritten. 30 Kilo hatte Thorsten Bachmann innerhalb kürzester Zeit verloren, als er zur Operation ins Krankenhaus ging. Mehrere Monate litt der Kunsttherapeut aus Berlin unter massiven Schluckbeschwerden. Er machte eine Magenspiegelung, erhielt schließlich die Diagnose Magenkrebs und bereitete seinen Körper mit einer zehrenden Chemotherapie auf den Eingriff vor. In vergangenen Oktober entfernten Chirurgen seinen Magen.


Gut erinnert sich der 65-Jährige an die Zeit nach dem Aufwachen. „Als ich frisch operiert auf dem Bett lag, kam ein Mann mit Laptop ins Zimmer und fragte mich: ‚Was wollen Sie denn essen?‘ – dabei hätte eigentlich ich Beratung gebraucht, was ich jetzt beachten muss.“ Einige Tage nach dem Eingriff servierte ihm die Klinik bereits Leberkäse mit Erbsen, so ziemlich das Gegenteil von Schonkost. Die Mahlzeiten bekam der Patient weiterhin drei Mal am Tag, anstelle von vielen kleinen Portionen, wie sie für Menschen geeignet wären, bei denen alle Nahrung ohne Zwischenschritte direkt im Darm landet. „Die haben da ihr Schema, von dem sie nicht abweichen“, sagt Bachmann.


Der Onkologe Markus Schuler, der Bachmann ambulant betreut, kennt solche Erfahrungen. Er spricht von der „klassischen Odyssee“ vieler Patienten: „Wir hätten viel weniger Komplikationen, Nebenwirkungen und auch psychologische Probleme, wenn die Kliniken sich um den Ernährungszustand ihrer Patienten kümmern würden. In vielen Fällen wird eine Mangelernährung gar nicht erkannt und behandelt.“  


Bis zu 30 Prozent der Patienten sind Mangelernährt


Geht es nach medizinischen Fachgesellschaften, soll sich das ändern. Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) haben sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aufgefordert, im Zuge seiner Krankenhausreform die Ernährungstherapie fest in den Kliniken zu verankern. 24 Gesellschaften unterstützen den Appell, darunter die Fachorganisationen für Innere Medizin und Geriatrie (Altersmedizin), die Krebs- und die Diabetesgesellschaft – ein ungewöhnlich breites Bündnis.


Studien zufolge gelten 20 bis 30 Prozent der Klinikpatienten als mangelernährt, also mit wichtigen Nährstoffen kritisch unterversorgt, argumentieren sie. In der Krebsmedizin oder bei älteren Menschen sind es sogar noch mehr. Betroffen seien bereits Säuglinge und Kinder, und auch vor stark übergewichtigen Patienten macht das Problem nicht Halt. Hier zeige sich der Mangel häufig durch den Verlust an Muskelmasse.


Das Problem: Von Mangelernährung Betroffene haben geringere Heilungschancen. Sie verkraften Operationen schlechter, bei ihrer Behandlung kommt es häufiger zu Komplikationen, ihr Risiko zu sterben ist größer als bei normal Ernährten. Immer wieder belegen Untersuchungen, dass bis zu 20 Prozent der Todesfälle von Krebspatienten gar nicht auf ihre Erkrankung, sondern auf die Folgen einer Mangelernährung zurückgehen. Dennoch verzichten viele Kliniken darauf, den Ernährungszustand der Patienten zu screenen. Das Essen gilt in vielen Einrichtungen als mangelhaft, zudem ist das Verpflegungsmanagement unzureichend mit den medizinischen Abteilungen verknüpft, wie DGEM-Präsident Matthias Pirlich im Gespräch mit der FR beklagt: „30 Prozent des Essens wird nicht gegessen. In manchen deutschen Krankenhäusern können Patienten wochenlang liegen, nichts essen – und keiner merkt es.“


»Mit der Ökonomisierung übertrieben«


Mit seiner Krankenhausreform will Minister Lauterbach nicht nur die prekäre Finanzlage der Krankenhäuser verbessern, sondern auch die Qualität: Man habe es mit der „Ökonomisierung übertrieben“, künftig müssten die Patienten „wieder im Mittelpunkt stehen“, so der SPD-Politiker bei einer Pressekonferenz. Bis zum Sommer will er die Eckpunkte seiner Reform in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe abgestimmt haben. Die Vorarbeit lagerte er an Experten seiner eigens gegründeten „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ aus.


Den Titel des Gremiums greifen nun die Fachgesellschaften auf: Eine „moderne“ und „bedarfsgerechte“ Versorgung – da darf aus ihrer Sicht die Ernährungstherapie nicht fehlen. Tatsächlich haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren eine erdrückende Evidenz zu Tage gefördert, dass sich damit Patienten helfen lässt. Allen voran mit der groß angelegten und 2018 im Fachjournal The Lancet veröffentlichten „EFFORT“-Studie (siehe auch Interview).


Für den Versuch ließ ein Schweizer Forscherteam mehr als 1.000 Klinikpatienten mit Mangelernährung und unterschiedlichen Diagnosen – Infektionen, Krebs, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm-, Lungen-, Nieren- oder Stoffwechselerkrankungen – zehn Tage lang ernährungstherapeutisch versorgen. Sie erhielten eine individuell abgestimmte Kost und kompetente Ernährungsberatung. Nach einem Monat stellten die Forscher fest: Das Risiko der Patienten, in diesem Zeitraum zu sterben, war mithilfe dieser kurzen Intervention um 35 Prozent gesunken. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe, in der ebenfalls gut 1.000 mangelernährte Patienten mit vergleichbaren Diagnosen die normale Krankenhauskost erhalten hatten. Durch die Ernährungstherapie verringerten sich auch Zahl und Schwere von Komplikationen.


Interview: »Wir könnten viele Todesfälle vermeiden«

Prof. Philipp Schütz

Der Schweizer Philipp Schütz (46) ist Chefarzt am Kantonsspital Aarau und Professor für Innere Medizin und Endokrinologie an der Universität Basel. In seiner weltweit beachteten „EFFORT-Studie“ von 2018 zeigte er, welchen Nutzen Ernährungstherapie im Krankenhaus hat. 


Frage: Mit ihrer Forschung konnten Sie belegen, dass Ernährungstherapie im Krankenhaus Leben retten kann. Warum gehört sie nicht längst zum Standard? 


Prof. Philipp Schütz: Der Hauptpunkt ist Ignoranz, im Klinikmanagement und in der Politik. Wir geben viel Geld für Medikamente aus, die viel teurer und viel weniger effizient sind. Dagegen ist die Ernährungstherapie lange in eine falsche Ecke gedrängt worden. In der Medizin hatte sie einen Ruf wie Homöopathie, dass sie wahrscheinlich nicht viel bringt. Lange Zeit fehlten gute klinische Studien. Das hat sich aber geändert: Wir haben die Evidenz, dass die Mortalität durch Ernährungsmaßnahmen im Krankenhaus sinkt und Patienten auch punkto Lebensqualität und Funktionalität profitieren. Seitdem nimmt die Skepsis in der Ärzteschaft ab, die Kliniken setzen sich damit auseinander. Es braucht aber noch einige Aufklärungsarbeit. Wir könnten viele Todesfälle vermeiden.


Mancher Krankenhausverantwortlicher bezweifelt, dass Ernährungsmaßnahmen in den wenigen Tagen im Krankenhaus so viel bewirken.


Das ist empirisch eindeutig belegt. In unserer Studie haben wir große Effekte in nur zehn Tagen erreicht. Wichtig ist, gleich bei der Klinikaufnahme ein Screening auf Mangelernährung durchzuführen, damit wir keine Zeit verlieren. Ob kranke Menschen jeden Tag 200 Kilokalorien und 30 Gramm Eiweiß mehr oder weniger essen, das summiert sich. Zudem sinkt die Rehospitalisierungsrate, wenn wir die Patienten auch für die Zeit nach ihrer Entlassung beraten. Ernährungstherapie lohnt sich also in jeder Hinsicht. Das Problem ist, dass viele Kliniken unterfinanziert sind. Es ist daher nicht die günstigste Zeit, um neue Programme ins Leben zu rufen. 


Wenn Sie von Ernährungstherapie sprechen: Welche Maßnahmen wären am wichtigsten? 


Als erstes das Screening der Patienten, um Mangelernährung früh zu erkennen. Für die Betroffenen muss dann im Team der Ernährungsberater und der Krankenhausküche ein individuell zugeschnittener Therapieplan erstellt werden. Die Probleme liegen sehr unterschiedlich: Die einen haben Schluckbeschwerden, andere eine Diabetes- oder Schilddrüsenerkrankung, oder ihnen fehlt wegen ihrer Krankheit einfach der Appetit. Entsprechend angepasst muss auch die Verpflegung sein. Außerdem ist Essen etwas sehr Persönliches. Es ist deshalb wichtig, die Patienten mit einzubeziehen. Nur so können wir ihnen etwas mitgeben, was sie auch nach der Entlassung aus der Klinik umsetzen können. 


Hat Ihre Forschung in der Schweiz zu Verbesserungen geführt? 


Wir sehen deutliche Fortschritte. Neu wird das Mangelernährungsmanagement in der Klinik in den Qualitätsvertrag zwischen Kliniken und dem Bundesamt für Gesundheit aufgenommen. Wir sind gerade dabei, mit dem Dachverband der Krankenhäuser spezifische Kriterien festzulegen. Zum Beispiel werden die Kliniken mindestens 90 Prozent ihrer Patienten auf Mangelernährung screenen und ihnen dann eine Ernährungsberatung anbieten müssen. Erreichen sie die Vorgaben aus dem Qualitätsvertrag nicht, werden finanzielle Abschläge fällig. Das wird das Interesse der Kliniken weiter steigern. Schon heute haben wir in der Schweiz etwas bessere Bedingungen als in Deutschland, weil die Ernährungstherapie bei den Fallpauschalen besser vergütet wird. Deshalb gibt es in fast allen größeren Kliniken interdisziplinäre Ernährungsteams, die sich um die Patienten kümmern. 


Viele Tumorpatienten, aber auch Menschen mit Diabetes oder Adipositas, erhalten in Deutschland keine Ernährungstherapie. Müsste sich auch ambulant etwas ändern? 


Es wäre für die Patienten enorm wichtig, dass eine Ernährungsberatung von den Kassen bezahlt wird. Es gibt in der Gesundheitspolitik immer die Angst vor Kostensteigerungen. Für die Ernährungstherapie in der Klinik konnten wir zeigen, dass sie nicht nur den Patienten hilft, sondern auch sehr kosteneffizient ist. Ich denke, dass wir auch mit ambulanter Ernährungsberatung die Mortalität senken und zudem Kosten sparen können, weil die spätere Behandlung ohne diese Prävention teurer wird. Diese These überprüfen wir gerade mit einer neuen Studie, dem „EFFORT II“-Versuch.


[Bild: Kantonsspital Aarau]


Auf Anfrage verweist das Bundesgesundheitsministerium auf die Qualitätsstandards für die Klinikverpflegung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), auf Expertenstandards für den Umgang mit Mangelernährung und auf ärztliche Leitlinien, die bei vielen Erkrankungen eine Ernährungstherapie vorsehen. Doch die Standrads sind unverbindliche Ratschläge, und gegen ärztliche Leitlinien werde regelmäßig verstoßen, wie der Berliner Onkologe Schuler weiß. Ein Beispiel: Nach Möglichkeit sollen Operationen bei Krebserkrankten mit schlechtem Ernährungszustand erst dann erfolgen, wenn diese über einige Tage mit hochkalorischer Nahrung gestärkt wurden – viele Kliniken verzichten aber darauf, so Schuler: „Die Strukturen der Krankenhäuser geben das gar nicht her.“


»Wir brauchen politische Regulierung«


Für einige Kliniken mag ein gutes Ernährungsmanagement ein Unterscheidungsmerkmal im Wettbewerb um Patienten sein, für andere ist es vor allem ein Kostenfaktor. 2018 ergab eine Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts, dass die Häuser im Schnitt rund fünf Euro pro Tag und Person für Lebensmittel ausgaben – preisbereinigt waren das 14 Prozent weniger als noch 2006. Auch die Stellen für Diätassistenten sind rückläufig, und trotz ihrer Bedeutung ist die Ernährungsmedizin bislang nur eine freiwillige Zusatzqualifikation für Ärzte, aber kein fester Bestandteil des Medizinstudiums. In ihrer Stellungnahme bemängeln die 24 Fachgesellschaften eine insgesamt ungenügende „Ernährungskompetenz“ in den Kliniken.


„Wir brauchen politische Regulierung“, fordert DGEM-Präsident Pirlich. Die Forderungen der Fachgesellschaften: Patienten sollten bei der Aufnahme in ein Krankenhaus „routinemäßig“ auf Mangelernährung untersucht und bei Bedarf eine individuelle Ernährungstherapie samt bedarfsgerechter Verpflegung erhalten. Zudem müssten die Kliniken „interprofessionelle Ernährungsteams“ einrichten. In solchen Teams arbeiten beispielsweise Ernährungsmediziner, Diätassistenten, Ökotrophologen und geschulte Pflegekräfte eng abgestimmt mit den Patienten, die ein Risiko für Mangelernährung tragen. Experten schätzen, dass bisher jedoch weniger als jede zehnte Klinik in Deutschland ein Ernährungsteam hat. Für Pirlich eine unverständliche Lücke: „Das ist so, als würden wir auf Hygienemaßnahmen verzichten“, so der Internist.


Im Gesundheitsministerium stoßen die Forderungen bislang nicht gerade auf offene Ohren. „Die Bundesregierung plant nicht, verpflichtende Ernährungsteams in Kliniken vorzuschreiben“, erklärt eine Sprecherin Lauterbachs auf Anfrage. Auch bei der Verpflegung sieht der Minister offenbar keinen politischen Handlungsbedarf: „Die Kliniken sind im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst für die Verpflegung im Krankenhaus verantwortlich“, so die Sprecherin.


Was das bedeuten kann, hat Thorsten Bachmann nach seiner Magen-OP erfahren. Dabei hatte er noch Glück: Die ambulante Praxis von Markus Schuler konnte ihn in ein Studienprojekt aufnehmen. Das ermöglichte engmaschigere Untersuchungen, zudem vermittelte der Onkologe ihm eine Ernährungsberatung. Bachmann holte sich auf diesem Wege selbst jene Ernährungskompetenz, die er im Krankenhaus vermisste. Die meisten anderen Patienten können nach dem Stand der Dinge nicht auf eine ähnliche Begleitung hoffen.



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Diese Artikel erschienen zuerst in der Frankfurter Rundschau. Bild: Pixelbay/Alexander Grey.

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