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Mehr Kohle, mehr Schnaps?

Martin Rücker

Die FDP-Kampagne zur Kindergrundsicherung: Eine Einordnung

FDP-Politiker mobilisieren gegen neue staatliche Gelder für die geplante Kindergrundsicherung. Mit Argumenten, die einer Überprüfung nicht standhalten – die aber umso schäbiger gegenüber Armutsbetroffenen sind. Eine kommentierende Einordnung. 

4. April 2023

Ja, es ist wahr: Je mehr Geld man den Menschen gibt, umso mehr verprassen sie für Alkohol. Die Studienlage in dieser Frage ist ziemlich eindeutig.


Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge jetzt einen Hartz-IV- bzw. neuerdings Bürgergeld-Empfänger sehen: Schalten Sie das Kopfkino aus. Die Rede ist nicht von Sozialhilfeempfängern, sondern von Top-Verdienern. Sie sind es, die nicht nur absolut, sondern auch relativ zu ihrem Einkommen am meisten Geld für Bier, Wein und Schnaps ausgeben, wie der „Alkoholatlas 2022“ des Deutschen Krebsforschungszentrums ausweist. In keiner Gehaltsklasse ist der Anteil größer als in der von Christian Lindner, Christian Dürr und Markus Herbrand.


Das ist insofern bedeutsam, weil die FDP-Politiker seit Wochen mit einer regelrechten Schmutzkampagne gegen die finanzielle Hinterlegung der von der Ampelkoalition längst verabredeten Kindergrundsicherung durch die Republik touren. Einer Kampagne, die sich von vielem verabschiedet hat, wofür ihre Partei vorgibt zu stehen: von Wissenschaft, Anstand, staatstragende Politik zum Beispiel.


Als der Bundestagsabgeordnete Herbrand in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche die Sorge beschwor, Eltern könnten zusätzliches Geld „einfach für ihre eigenen Bedürfnisse wie beispielsweise Alkohol oder Zigaretten verwenden“, musste er wissen, welch: Das ist eine Geisterdebatte. Ein Langzeitexperiment in den USA – Forscher mehrerer Universitäten und Disziplinen führen es unter dem Titel Baby’s First Years durch – bestätigt dies gerade wieder. In ihrem Versuch stellen sie armutsbetroffenen Familien von der Geburt eines Kindes an jeden Monat 333 Dollar zusätzlich zur Verfügung. Die Eltern können damit tun, was sie wollen, es gibt keine Bedingungen. Als Kontrollgruppe dienen Familien, die lediglich 20 Dollar erhalten. Bereits nach einem Jahr maßen Neurowissenschaftler, wie sehr Kinder der Versuchsgruppe (die mit den 333 Dollar monatlich) von der Gabe profitierten: Ihre Gehirne entwickelten sich signifikant besser als bei den Kindern in der Kontrollgruppe.


An mehr Alkohol und Kippen für die Eltern lag das nicht, und übrigens auch nicht an größeren Glotzen, die sich die Erwachsenen mit den Geld hätten anschaffen können. Eine erste Auswertung zeigt, dass sie ihr zusätzliches Budget in Dinge wie Kinderspielsachen und Bücher investierten.


Eine schäbige Kampagne – offenbar mit System


Auch für Deutschland kamen das Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und die Bertelsmann Stiftung in einer Auswertung bereits vor Jahren zum ähnlichen Schluss: Aufschläge auf das Kindergeld, führten jedenfalls in jüngeren Jahren nicht zu höheren Ausgaben für Suchtmittel. Natürlich könne es einzelne solcher Fälle geben, räumten die Autoren ein. Diese „erhalten jedoch – weil sie plakativ sind und sich leicht medial zuspitzen lassen – möglicherweise mehr Aufmerksamkeit, als sie es verdienen.“ Zum Präzedenzfall hochstilisieren lassen sie sich von einer staatstragenden Partei also nicht. Zumal der Alkoholatlas auch enthüllt, dass Eltern auch noch weniger trinken als kinderlose Erwachsene – und weitere Untersuchungen zeigen, Wahrscheinlichkeit eines regelmäßigen Alkoholkonsums auch noch umso größer ist, je höher der Bildungsstand. In der Bildungspartei FDP sollten sie jetzt tapfer sein: Die Wirklichkeit ist leider nicht so einfach, wie ihr gegenwärtiger Populismusanfall sie erscheinen lässt.


Damit zu Christian Lindner. Im Kampf für einen Haushaltsentwurf und gegen neue Milliarden für die Kindergrundsicherung behauptet der Bundesfinanzminister seit Wochen mantraartig, dass für Familien mit Kindern bereits „viel“, ja „das Wesentliche“ getan sei. Vor allem, weil die Koalition das Kindergeld zum Jahreswechsel von 219 auf 250 Euro erhöhte, so stark wie seit beinahe 30 Jahren nicht. Das zumindest stimmt.


Was für armutsbetroffene Familien wirklich „wesentlich“ ist, verschweigt der FDP-Chef allerdings: Dass das Kindergeld voll auf den Regelsatz des Bürgergeldes angerechnet wird. Von dem Plus profitieren Armutsbetroffene also kein bisschen, anders übrigens als Besserverdiener. Um „mehr Kinder aus der Armut holen“ zu können, wie der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht, ist ein höheres Kindergeld also vollkommen untauglich. Entweder weiß Lindner das, was naheliegt – dann nähme er es mit der Wahrheit nicht so genau. Oder er weiß es nicht, dann wäre ihm die Ernsthaftigkeit des Themas verborgen geblieben. Beides ist schäbig und für ein führendes Mitglied der Bundesregierung unwürdig, denn die Debatte geht zu Lasten der Ärmsten in unserer Gesellschaft.


Dass auch der liberale Fraktionsvorsitzende Christian Dürr im öffentlichen Auftritt suggeriert, vom höheren Kindegeld könnten „alle“ Kinder profitieren, verstärkt den Eindruck, dass die irreführende Kampagne System hat. Es ist Politik nach dem Motto: Nach unten treten, nach oben verteilen.


Auch ein Medienversagen


Erstaunlich ist, wie Linder & Co. ihre falschen Argumente immer und immer wieder unwidersprochen vortragen dürfen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen genauso wie im Spiegel und der Bild am Sonntag. Das offenbart nicht zuletzt auch ein mediales Versagen. Es wäre journalistische Aufgabe, die Einordnung zu liefern, den Minister und seine Mitstreiter mit einer derart unredlichen Kampagne nicht durchdringen zu lassen.


Dabei kann es natürlich auch nachvollziehbare Argumente gegen neue Sozialleistungen oder überhaupt gegen höhere staatliche Ausgaben geben, ob man sie teilt oder nicht. Wenn eine Partei sie vertritt, kann sie allerdings nicht so tun, als sei der Job (genügend Geld gegen Armut) bereits erledigt – sie muss schon den Anstand aufbringen, den Menschen zu erklären, warum dieser Job für sie gegenüber anderen Aufgaben gerade keine Priorität hat.


Denn wer kein Geld in die Hand nehmen möchte, der wird auch keine Kinder aus der Armut holen: So viel Klarheit sollte schon sein.



Bild: Pixabay/annca

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